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Ausdruckstanz und Faschismus

Der Ausdruckstanz der Zwischenkriegszeit befreit seine Interpretinnen aus verborgenen, sozialen Konventionen. In Opposition zum in Posen erstarrten klassischen Tanz entwerfen die Tänzerinnen einen rebellischen Bewegungsduktus: Frei von Korsett und Spitzenschuh vertrauen sie ganz ihrer Psyche, deren Inhalte sie mit ihren Körpern ekstatisch, rauschhaft und dionysisch ausdrücken. Indem sie kodifizierte Bewegungsformen und Schrittmuster verlassen und sich stark an ihren Emotionen orientieren, erhalten Bewegungen und Gesten eine Sprach- und Darstellerfunktion; sie bilden das ästhetische Zentrum des Ausdruckstanzes. Parallel zu einer bedeutenden solistischen Strömung innerhalb des Ausdruckstanzes entwickelt sich eine breite Laientanzbewegung, die den ›Chorischen Tanz‹ propagiert. Geprägt von einer lebendigen Szene aus erstklassigen Tänzerinnen, Choreographinnen und Tanztheoretikerinnen werden zahlreiche Ausbildungsstätten gegründet und internationale Festivals abgehalten. Trotz der überwiegend apolitischen Ausrichtung des Ausdruckstanzes erkennen einige Tänzerinnen und Tänzer die bedrohlichen Zeichen der Zeit und berücksichtigen sie konzeptionell und gestalterisch in ihrem Werk.

Ob gesellschaftskritisch oder nicht, die NS-Machtergreifung stellt eine Zäsur für alle Tänzerinnen und Tänzer dar: »Was im Zuge der Aufarbeitung österreichischer Kulturgeschichte gerne vergessen wird: Daß es wegen des Hitler-Regimes nicht nur vertriebene und vergessene Schriftsteller, Komponisten, Architekten, Schauspieler und Sänger gab, sondern auch Choreographen und Tänzer. Ein Großteil der künstlerischen Potenz des Ausdruckstanzes der Zwischenkriegszeit war jüdisch, kommunistisch, homosexuell oder einfach kritisch und daher von der Kulturpolitik des Nationalsozialismus unerwünscht.« (Andrea Amort). Wer unter ihnen nicht rechtzeitig emigriert oder sich an sicheren Plätzen versteckt, wird interniert und häufig im KZ ermordet. Die verbliebene TänzerInnenschaft schweigt zu den Ereignissen. Der Ausdruckstanz der Zwischenkriegszeit wird schleichend und ohne nennenswertes Aufsehen an die NS-Ideologie angepaßt und in den Nationalsozialismus eingegliedert.

Vorerst lassen die Machthaber vertraute Begriffe fast unangetastet und verändern lediglich deren Inhalt. So wird etwa das Wort ›Gemeinschaft‹, welches die utopische Idee und das anzustrebende Ziel im Ausdruckstanz ist, durch das Wort ›Volksgemeinschaft‹ erweitert. Bald gilt (darstellende) Kunst als höchster Ausdruck artgleicher Blutsgemeinschaft. Neben der theoretischen Werteverschiebung definiert die NS-Ideologie das ideale Körperbild um, was sich unmittelbar auf der Bühne widerspiegelt. Während im Ausdruckstanz der Zwischenkriegszeit androgyne Figuren die Grenzen der Geschlechter tanzend verwischen und hinterfragen, forciert der Nationalsozialismus eine offensichtliche Trennung zwischen Frau und Mann. Tänzerinnen bewegen sich nun in aufopfernder Haltung vorwiegend anmutig und schön, Tänzer zeigen sich muskulös, kampfbereit und gesund. Das Diktat für Kopf und Blick lautet: aufrecht und frei. Versteht man jede Bewegung als Zeichen, so läßt sich die Wandlung im Tanz schlußendlich auch im Bewegungsduktus nachzeichnen. An Stelle der aus der Improvisation gewachsenen und nicht im Detail festgelegten Bewegung tritt die klar geformte, auf Einheitlichkeit und Linie bedachte Geste und der geordnete Aufmarsch von Gruppen. Oberstes Primat der Tänzerinnen und Tänzer ist per se ihre Volkstümlichkeit, alles Experimentelle wird eliminiert, jeglicher Individualismus diffamiert. Die abstrakten, verzerrten und grotesken Tänze der Blüte des Ausdruckstanzes sind endgültig passé. Auch in der Laientanzbewegung graben die veränderten Verhältnisse tiefe Spuren. Laientänzerinnen und -tänzer lassen sich nämlich insofern mißbrauchen, als sie statt an modernen, chorischen Werken zunehmend an effektvollen Massenveranstaltungen mitwirken, was ihren traurigen Höhepunkt in der von AusdruckstänzerInnen choreographierten (!) Eröffnung der Olympischen Spiele in Berlin 1936 findet.

Die restaurativen Tendenzen im deutschsprachigen Raum der Nachkriegszeit sowie die Sprachlosigkeit wegen möglicher schuldhafter Verstrickungen von VertreterInnen einer ursprünglich revolutionären Kunstgattung lassen den Ausdruckstanz einige Jahrzehnte als Relikt erscheinen. Erst die politisch engagierte Tanztheater-Generation der 80er Jahre besinnt sich seiner und begreift den Ausdruckstanz vor dem Faschismus als das fehlende Glied in der Kette der mitteleuropäischen Tanzentwicklung.

Ingrid Türk-Chlapek

Quellen:
Andrea Amort: Dokumentation »Wiener Tanz im Exil«. Theatermuseum Wien 2000
Sibylle Dahms (Hg): Tanz. Bärenreiter & Metzler 2001
Hedwig Müller, Patricia Stöckemann: »… jeder Mensch ist ein Tänzer«. Ausdruckstanz in Deutschland zwischen 1900 und 1945. Gießen 1993