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We’re All History

International Senior Theatre Conference und Festival, Ohio (USA), 2002

Sie tanzte barfuß, in einem losen T-Shirt und knielanger Trainingshose, mit ihrem über fünfzigjährigen Körper, in dem sich die Spuren des Älterwerdens eingeprägt haben. Candace Feck, ehemals professionelle Tänzerin, inzwischen langjährige Tanzpädagogin an der Ohio State University hatte besonderes zu bieten. Mit der Erlaubnis von Ivonne Rainer und unter deren Anleitung studierte sie Trio A ein, d a s amerikanische Tanzsolo der Sechziger, das noch heute zu den Meilensteinen postmoderner Choreographie zählt. Ursprünglich war das Werk als ein Stück der Stille konzipiert worden, indem Bewegungen und Gesten ohne Akzent, Impuls, Theatralität oder Phrasierung ineinander übergehen. Candace Feck kombinierte es nun mit Sprache, indem sie - während sie sich bewegte - die historische und persönliche Bedeutung des Solos erklärte. Vor Jahren hatte sie ihre Bühnenkarriere beendet, um sich ihrer Tätigkeit als Tanzlehrerin und ihren drei Kindern zu widmen. Nun ließ sie uns teilhaben an ihren Bedenken, als ältere Frau mit einem übergewichtigen Körper, der üblicherweise in professionellen Tanzaufführungen nicht existiert, ein „Comeback“ zu starten. Berührend.

Wiewohl beeindruckend blieben die Ambitionen von professionellen Darstellerinnen und Darstellern am International Senior Theatre Conference und Festival USA 2002 insgesamt glücklicherweise Randerscheinungen, denn allem zum Trotz bleibt das Außergewöhnliche und Fesselnde im SeniorInnentheater nach wie vor die Frische und Spontaneität von Laien. Konferenz und Festival wurden von der Senior Theatre League of America, einer Unterabteilung der Educational Theatre Association ausgerichtet und von 18. bis 22. August an der Ohio State University abgehalten. Als Vertreterin des Österreichischen Verband für Schulspiel, Jugendspiel und Amateurtheater für den Fachbereich SeniorInnentheater sowie in meiner Funktion als Leiterin des Artemis Generationentheater in Klagenfurt/Celovec war ich zu dieser Veranstaltung eingeladen worden, um über Developments, present situation and visions für senior theatere in Austria zu referieren und das Workshop Using body language and daily movements to develop dance (theatre) zu halten.

Mit über 80 Veranstaltungen boten Konferenz und Festival eine atemberaubende Vielfalt an Optionen. Einziger Wermutstropfen: Viele Termine überlappten sich, so dass niemand alles sehen konnte. Schon aus diesem Grund muss die Beschreibung der Ereignisse bruchstückhaft und subjektiv bleiben.

Erstmals in der Geschichte des US-SeniorInnentheaters fanden Konferenz und Festival an einer Universität statt, was zu einer fruchtbaren Kooperation zwischen Theorie und Praxis führte. Die starke Eingebundenheit in den universitären Bereich spiegelte sich inhaltlich im Konzept der Konferenz von Frau Dr. Joy Reilly wider, die neben ihrer Tätigkeit als deren künstlerische Leiterin seit vielen Jahren am theaterwissenschaftlichen Institut der Ohio State University forscht und lehrt.

Zwölf Podiumsdiskussionen im Stundentakt an drei Vormittagen deckten die zentralen Themenbereiche des SeniorInnentheaters umfassend ab. Neben Basisinformationen über Fragen zu Gruppengründung, Sponsoring, Marketing, Urheberrecht und Publikumsforschung spannte sich der Bogen über die Methode der Stückentwicklung à la Augusto Boal, das Playback Theatre, das Reminiscence Theatre zu Themenkomplexen wie „SeniorInnentheater und Gesundheit“ oder „SeniorInnentheater und Behinderung“. Die beiden letztgenannten Themen stellten für mich völliges Neuland dar. So wurde etwa die Einbindung von SeniorInnentheater in die Ausbildung von ÄrztInnen präsentiert. Dabei stellten StudentInnen der Medizin und Mitglieder einer SeniorInnentheatergruppe fingierte Hausbesuche in Form von Rollenspielen nach, deren Videoaufzeichnung man anschließend gemeinsam diskutierte. Der Bereich „Theater und Behinderung“ erhielt ebenfalls einen breiten Raum. Damit auch blinde Menschen Theateraufführung besuchen können, entwickelte man die Technik der Audio Description, bei welcher eine speziell geschulte Fachkraft während laufender Aufführung über Kopfhörer den blinden ZuschauerInnen alle visuellen theatralen Zeichen beschreibt. Auch der Einsatz der Gebärdensprache und deren Integration in das Bühnengeschehen (GebärdensprecherIn übersetzt den Text simultan zum Spiel von der Bühne) wurde erfolgreich demonstriert. Hier können wir Europäerinnen und Europäer noch jede Menge dazulernen.

Nicht nur im sozialen Feld sondern auch in der methodischen Vorgangsweise zeigten sich Unterschiede zwischen dem amerikanischen und dem europäischen SeniorInnentheater. Während in Europa entweder die Stücke kollektiv entwickelt werden oder auf bereits vorhandenen Texten basieren, sind in den USA eigens engagierte Playwrights keine Seltenheit. Diese professionellen AutorInnen blicken inzwischen auf reichhaltige Erfahrungen im Schreiben von Stücken für ältere und alte Menschen zurück. Die Theaterstücke sind meist konventionell gebaut und weisen kausale Handlungsstränge auf. Handlung, Sprache und Text schneiden die AutorInnen im Zipp-Verfahren auf die einzelnen Ensemblemitglieder zu: Sie sind bei den angeleiteten Improvisationen anwesend und schreiben auf diesem Material aufbauend die Szenen. Der Text wird in der Gruppe diskutiert und im Bedarfsfall geändert. Als vorteilhaft erweist sich der klare Bogen der Stücke ohne dramaturgische Hänger, experimentelle Texte bleiben im US-SeniorInnentheater eine Randerscheinung.

Die sogenannten Lab Theatre Performances des Festivals erwiesen sich aus dieser Perspektive als kluges Angebot, um experimentellen Positionen innerhalb des SeniorInnentheaters Gehör zu verschaffen. In einem winzigem Raum mit schwarzen Vorhängen und ohne technisches Equipment konnten hier nachmittags, parallel zu den Aufführungen auf der Hauptbühne Experimentelles und Fragmentarisches gezeigt und diskutiert werden. Zu hören waren Lesungen von Ausschnitten aus SeniorInnentheaterstücken sowie Storytelling, zu sehen gab es Monologe, Mini-Dramen für kleine Besetzung, Puppentheater für Hochbetagte, dramatisierte Gedichte für Kinder in Volksschulen und das eingangs beschriebene adaptierte Tanzsolo Trio A nach Ivonne Rainer.

Während die GruppenleiterInnen an den Podiumsdiskussionen teilnahmen, tummelten sich die Ensemblemitglieder vormittags in den zahlreichen Workshops. Die Workshops vermittelten praxisorientert die Theateransätze unterschiedlicher SeniorInnentheatergruppen. Von der praktischen Umsetzung konnte man sich im Anschluß bei nachmittäglichen und abendlichen Aufführungen der jeweiligen Gruppen überzeugen. Ich möchte dies anhand von zwei ausgewählten Produktionen näher beleuchten.

So demonstrierte etwa der künstlerische Leiter vom Roots and Braches Theatre in New York, Arthur Strimling, in seinem Workshop Creating Original Theatre from Classic Plays anhand von Shakespeare’s König Lear, wie er klassische Texte mit den Erfahrungen und Erinnerungen seiner Ensemblemitglieder verband, um daraus ein für unterschiedlichste Generationen relevantes Theaterstück zu entwickeln. Zeile für Zeile lasen wir im Workshop eine Szene und versuchten sie anschließend in Beziehung zu unserem Alltag zu setzen, tauschten uns also über die Problematik der Geschwisterrangfolge, des Erbschaftsrecht und der historischen Entwicklung von Pensionsansprüchen aus. Tags darauf sahen wir die Inszenierung von Playing Lear . Arthur Strimling verwob einfühlsam die Gegenwart in das historische Stück, indem er uns an einer fiktiven Probe von König Lear teilnehmen ließ. Die Darstellerinnen und Darsteller im Alter zwischen 18 und 95 Jahren rezitierten den Originaltext von Shakespeare, unterbrachen ihr Spiel jedoch immer wieder und äußerten ihre Einwände am Regiekonzept. Die Tragweite ihrer Kritik untermauerten sie anhand von persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen und illustrierten diese szenisch als Rückblenden. Playing Lear erstrahlte dadurch in seiner ganzen Vielfalt und Aktualität. Zusätzliche interessante Interpretationsmöglichkeiten ergaben sich aus Mehrfachbesetzungen einzelner Rollen und aus der Besetzung gegen Alter und Geschlecht. So spielte die Rolle des Lear sowohl ein alter Mann im Rollstuhl als auch eine junge Frau und eine Frau mittleren Alters.

Völlig konträre Theaterarbeit leistete das Encore Theatre aus Eugene, Oregon. Eliza Roaring Springs, die künstlerische Leiterin der Truppe, demonstrierte ihren Arbeitsansatz im Workshop Bridges of Possibility: Seniors and At-Risk Youth. Das Encore Theatre besteht mit Ausnahme der Gruppenleitung aus Seniorinnen und Senioren, die auf der Bühne wahre Geschichten aus ihrem Leben preisgeben, ihre Verletzlichkeit zeigen, um auf diese Weise Brücken zu sozial gefährdeten Jugendlichen zu bauen. Auch hier durften wir die theoretischen Grundlagen tags darauf anhand der aktuellen We’re All History überprüfen. Knappe Erzählsequenzen persönlicher Geschichten aus dem Leben der DarstellerInnen wurden in eine schwungvolle Show mit Songs und Tanzeinlagen verpackt. Üblicherweise in Schulen, Heimen und Gefängnissen aufgeführt, soll das Theaterstück durch seine Ehrlichkeit Türen zu sozial gefährdeten Jugendlichen öffnen. Für Eliza Roaring Springs ist das anschließende Gespräch mit den jungen Menschen ebenso wichtig wie die Aufführung selbst.

Die Arbeit von Encore Theatre war zwar in ihrer inhaltlichen Zielsetzung außergewöhnlich für das US-SeniorInnentheater, formal war sie jedoch genauso wie viele andere Produktionen des Festivals als Nummernrevue mit Schlagern und Stepeinlagen konzipiert. Insgesamt zeigte sich am Festival eine Tendenz zu leichter Unterhaltung für ältere und alte Menschen, wohingegen Truppen, welche die Jugend ansprechen oder generationsübergreifende Fragestellungen forcierten, in der Regel mehr Tiefgang bewiesen. Hier stellt sich die Frage, ob das wirklich so sein muss oder ob plumpe Vorurteile in bezug auf die Vorlieben von älterem und altem Publikum bedient werden.

Am Ende von Konferenz und Festival wurde der Vorstand der Senior Theatre League of Amerika neu gewählt, dessen zukünftige Agenden unter anderem sein wird, zweijährig ein nationales SeniorInnentheater-Festival samt Konferenz zu organisieren und alle vier Jahre ein internationales Treffen. Der Veranstaltungsort von Festival und Konferenz wird jedesmal wechseln. Zunehmende Professionalisierung in der Organisation von Festival und Konferenz wird angestrebt. Man wolle vor allem aus den Erfahrungen am Campus der Ohio State University lernen, meinte Joy Reilly. Weder die Unterbringungen im regulären Studentenheim am Campus noch das universitäre Theaterzentrum (Drake Center) war behindertengerecht ausgestattet. Viele Treppen, unübersichtliche und weite Wege erschwerten etlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmern den Aufenthalt.

Ursprünglich international angelegt, offenbarte sich Konferenz und Festival als nationales Treffen mit einzelnen ausländischen Gästen aus den Niederlanden, England, Kanada, Deutschland, Australien und Österreich. Von der Festivalleitung, Joy Reilly, wurde außerordentlich bedauert, dass nur eine einzige ausländische SeniorInnentheatergruppe (aus den Niederlanden) auf der Bühne zu sehen war, da ursprünglich zahlreiche internationale Gruppen eingeladen worden waren. Die Gruppen aus Deutschland und der Schweiz konnten jedoch die Flug- und Aufenthaltskosten nicht aufbringen, der Gruppe aus Argentinien verweigerten wiederum die US-Behörden die Einreise. Alle ausländischen Gäste wurden herzlich aufgenommen und es kam zu regem fachlichen Austausch.

Insgesamt stellte der Konferenz und das Festival für mich eine enorme Bereicherung dar und regte mich zur Standortbestimmung des Österreichischen SeniorInnentheaters innerhalb der europäischen und amerikanischen SeniorInnentheater-Landschaft an. Es bleibt zu hoffen, dass meine Erfahrungen als Impulse in die Österreichische Szene einfließen können. Joy Reillys Ziele, unbekannte Wissensgebiete aufzugreifen, bekannte Wissensgebiete zu vertiefen, Netzwerke zu forcieren und viele, viele Produktionen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wurden voll erreicht. Die Theorie zum US-SeniorInnentheater der Gegenwart wirkt ungeheuer professionell und fundiert, die Praxis strotzt vor Spielfreude und Sinnlichkeit.

Ingrid Türk-Chlapek