Skip navigation
|  Home  |  Über uns  |  News  |  YouTube  
Produktionen  |  Kulturvermittlung  |  Tanzwerkstatt  |  Fachberichte  |  Fotos  |

ein stück leben auf der bühne

Erinnerungstheater von und mit älteren Menschen [ 1 ]

Ingrid Türk-Chlapek

Die kreisförmige Bühne ist vier Meter im Durchmesser, dreißig Zentimeter erhöht und läßt sich auf einer Schiene rollen. Während sich die Stuhlreihen im Speisesaal des Seniorenheimes Itzling mit Menschen füllen, betreten die ProtagonistInnen kaum beachtet die Bühne. Fünf Frauen und zwei Männer nehmen in Fauteuils um einen Clubtisch Platz. Alle sieben haben die Lebensmitte längst überschritten. Einige setzten sich mühsam und mit Unterstützung, andere sind zu dieser Tätigkeit noch selbständig in der Lage. Man plaudert, knabbert und nippt an Vorbereitetem, alles wirkt entspannt. Die Bühne beginnt sich kontinuierlich, in Zeitlupe, um die eigene Achse zu drehen. Sieben vom Plafond hängende Mikrofone, das Technikerpult, Lautsprecher und Scheinwerfer sowie eiliges Backstage-Personal erzeugen eine Talk Show-Atmosphäre. Nur der Koch, welcher neben der Bühne auf einem Herd zu braten und backen beginnt und die an die Betonwand projizierten Live-Bilder zweier Videokameras, lassen Performance bzw. Theater erahnen. Doch dann geht das Saallicht aus, die Musik wird lauter, Gespräche im Raum verstummen. Das Spiel beginnt.

anno MM

memento mori nennt sich die Produktion von Betsy Torenbos, die unterstützt von Eva Forstenlechner im Rahmen der sommerSzene Salzburg 2000 uraufgeführt wird. Ein spannender Nachmittag Erinnerungstheater, anhand dessen dieser unbekannten Theatergattung eine detaillierte Reflexion gewidmet werden soll. Denn, obwohl die Inszenierung bereits acht Monate zurückliegt, hat sie nichts an ihrer Aktualität eingebüßt.

motivation

Erinnerungstheater basiert auf Erinnerungen. Englisch  remeniscence theatre, wird diese Theaterform seit den 90er Jahren in Großbritannien produziert. [  2 ] Pam Schweitzer und ihre Theatergruppe Age Exchange gelten als eine der ProtagonistInnen. Im März 2000 veranstaltete das Londoner remeniscence center unter der Leitung von Pam Schweitzer ein internationales Erinnerungstheater-Festival, in welchem sich drei aktuelle Strömungen herauskristallisierten: Der ethnische Zugang zeigt die Geschichte eines ganzen Volkes (z. B. Taiwan), der sozialhistorische Zugang durchforstet die Lebensbedingungen gesellschaftlicher Schichten (z. B. Dockarbeiter) und der biographieorientierte Zugang widmet sich Schlüsselmomenten in individuellen Lebensläufen.

Der biographieorientierte Zugang gilt als Schnittstelle zum Theater mit älteren und alten Menschen. Und von diesem Theater soll hier die Rede sein. Rückschau, Überblick und Erinnerung sind schließlich die Vorrechte des Alters. Was vermag in diesem Zusammenhang Erinnerungstheater?

In Anlehnung an das Konzept des life review – der Lebensrückschau – erkannte Pam Schweitzer das Bedürfnis vieler Menschen im Alter, ihrem verflossenen Leben einen Sinn zu geben. »Dabei dient das Erinnern der Versicherung eigener Identität und eigenen Wertes.« [ 3 ] Es ist gleichzeitig der Versuch, sich am Ende des Lebens mit seinem Schicksal, mit der Kluft zwischen den Hoffnungen und Träumen der Jugend und dem tatsächlichen Verlauf des Lebens, auszusöhnen. Erinnerungstheater als Chance, die Selbstachtung ihrer Mitwirkenden zu steigern.

Gleichzeitig bietet Erinnerungstheater die Möglichkeit, eigenes »Versagen« zu relativieren, indem man die Zusammenhänge zwischen Privatem und Politischem, zwischen der persönlichen Alltagsgeschichte und der »Großen Geschichte« [ 4 ] erkennt. »Arbeitslosigkeit ist für Herrn M. ein privates Schicksal und muß als solches bewältigt werden und gleichzeitig die Folge von Rationalisierungen, nationalen wirtschaftlichen Rezessionen, Weltwirtschaftskrisen.« [ 5 ] Indem Herr M. die Verknüpfung seines Schicksals mit den gesellschaftlichen Entwicklungen begreift, sein einzelnes Leben den allgemeinen Verhältnissen zuordnen kann, fällt Druck von ihm ab. Erinnerungstheater als Entlastung.

Sich an etwas erinnern heißt, sich etwas zu vergegenwärtigen. Für den Philosophen Walter  Benjamin reicht bloße Vergegenwärtigung  nicht aus. Man müsse mit den Erinnerungen tätig umgehen, »denn dies bedeutet, Erfahrungen mit der Vergangenheit so zu bearbeiten, daß an ihnen etwas begriffen werden kann« [ 6 ]. Das Theater der Erfahrungen in Berlin stellt seit 20 Jahren konsequent die Quintessenz ihrer Erinnerungen auf die Bühne. Etwa in dem Theaterstück Aber wir doch nicht (1991), welches sich mit den Rollen, Standpunkten und Haltungen der Ensemblemitglieder zur Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt. Hier wird Erinnerungstheater zur Spurensuche,  um Geschichte aufzuarbeiten, aufklärend zu wirken und Erkenntnisse zu vermitteln. Erinnerungstheater als Vermächtnis und idealer Begegnungsort zwischen den Generationen.

laboratorium

Frau Baier, Frau Bauer, Frau Fischinger, Frau Lackerbauer, Frau Peittbuchner, Herr Ringler und Herr Somogyi, die Ensemblemitglieder von anno MM memento mori, sind zwischen 60 und 93 Jahre alt. Gefunden hatte man sich über eine Annonce und mit Hilfe der Seniorenheimverwaltung der Stadt Salzburg. Elf Personen meldeten sich, fünf von ihnen mußten sich im Laufe der Probezeit aus gesundheitlichen Gründen aus dem Projekt zurückziehen. Ziel war ein Stück Erinnerungstheater auf die Bühne zu bringen. Nichtsdestotrotz wollten die SeniorInnen anfangs ein klassisches Theaterstück mit fixem Text, klarer Rollenverteilung und exakten Regievorgaben spielen. [ 7 ]

Erinnerungstheater folgt jedoch eigenen Gesetzen. Die Theaterstücke werden nach den Methoden der Biographiearbeit, der Oral history und der Theaterpädagogik entwickelt.

In der Biographiearbeit helfen sinnliche Objekte, sogenannte Stimulanzia, dem Gedächtnis auf die Sprünge. Brücken in die Vergangenheit lassen sich besonders gut über den Geschmacksinn, Tast- oder Geruchssinn schlagen. Auf Malzkaffe und Zimtsterne reagieren die Geschmacksnerven, Samt und Seide verführen zu Berührungen, Kölnisch Wasser und Mottenkugeln riechen vertraut [ 8 ]. Alte Lieder, Fotos, Kochrezepte, Witze, Zeitungsausschnitte, Tagebücher oder Briefe locken ebenfalls abgesunkene Erinnerungen hervor. »Wir alle haben ein paar Standardgeschichten auf Lager, die wir immer wieder erzählen. Doch aufregend wird es erst, wenn wir uns selbst mit einem Detail überraschen, das uns völlig entfallen war.« [ 9 ]

Die Strategie der Fragestellung und Gesprächsführung ist der Oral history [ 10 ] entlehnt, einer Disziplin der Geschichtswissenschaft zur Erforschung  der Rezeption zeitgeschichtlicher Ereignisse von Einzelnen oder Personengruppen. Seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kritisieren Wissenschaftler das bloße Sammeln von Daten und Fakten der nationalen Politikgeschichte. Die modernen GeschichtsforscherInnen interessieren sich zunehmend für die »andere« Geschichte,  die unsichtbare Geschichte der »kleinen Leute« [ 11 ]. Dabei werden mit Hilfe von Interviews oder Fragebögen nach Spuren gesucht. Spurensicherung  vollzieht sich mittels Erinnerung. Der Prozeß des Sich-Erinnerns aktualisiert neben den high-lights des Lebens aber auch Lebenswunden, schmerzvolle Erfahrungen, Ungerechtigkeiten, Gefühle von Ohnmacht, Schuld und Scham. Während dieses Prozesses ist die Theaterleitung aufgerufen, die Empfindungen der Ensemblemitglieder ernst zu nehmen, ohne die Grenze zur Psychotherapie zu überschreiten. Erinnerungstheater will nicht heilen, sondern Menschen aktivieren, Erinnerungen in Kunst zu transformieren und einem Publikum zu vermitteln.

Da Erinnerungstheater meist von Laien [ 12 ] gespielt wird, die vorher selten oder nie auf der Bühne gestanden sind, ist die Aneignung praktischer Bühnenkenntnisse im Vorfeld der Aufführung notwendig. Angeleitete darstellende Übungen begleiten daher die Phase der Stückentwicklung von Anfang an. Diese fördern die Bühnenpräsenz der Ensemblemitglieder, steigern ihre Sinne sowie ihre emotionale Ausdruckskraft und trainieren Atmung und Stimme. Die Theaterpädagogik spricht in diesem Zusammenhang von der Überwindung von Zwängen und Hemmnissen, die sich zwischen uns und unsere Erfindungen, unsere Kreativität stellen [ 13 ].

dramatisierung

»Natürlich der zweite Raum neben dem Keller, hätte mich mehr interessiert, weil da bin ich nie hineingekommen, da war immer abgesperrt. (...) Ich hab’ nur studiert, was ist in dem Raum daneben? Ist da heller? Ist da schöner? Ist da was zum Essen drinnen? So hab ich Tag und Nacht in dem Keller verbracht, meine Strafe abgebüßt und bin dann wieder in die Freiheit entlassen worden. Aber der zweite Raum ist mir bis heute verschlossen.« (aus der Kellererinnerung: falten-Performance (2000), Artemis Generationentheater)

Erinnerungstheater behandelt zeitgeschichtliche Ereignisse der sich erinnernden Menschen aus dem Blickwinkel der Gegenwart. Ensemble und Theaterleitung einigen sich anfangs gemeinsam über die spezifischen Aussagen und Inhalte des zukünftigen Theaterstückes. Während dieser schöpferischen Probemonate bereitet die Theaterleitung alle Treffen sorgsam vor und moderiert sie umsichtig: es wird gefragt, erzählt, gelacht, gezeigt, erzählt, geantwortet, improvisiert, geschwiegen, erzählt, vorgespielt, gewitzelt, geweint und gelacht. Häufig läuft ein Aufnahmegerät als Gedächtnisstütze im Hintergrund mit. Nach Abschluß der Materialsammlung beginnt die Dramaturgin, die Informationen in Form zu bringen. Im Gegensatz zu ihrer Tätigkeit bei literarischen Textvorlagen (z. B. Shakespeares Hamlet), wo dessen Interpretation, die Beziehung zwischen Drama und Realität im Vordergrund steht und vor allem Fäden in die Gegenwart gewoben werden [ 14 ], übernimmt die Dramaturgin des Erinnerungstheaters MitautorInnenschaft. Schwerwiegende Entscheidungen müssen fallen: Soll das Stück aus einer atmosphärischen Situation, aus collageartigen Szenen oder aus einer fortlaufenden Handlung bestehen? Gibt es einen »roten Faden« und wenn ja, welchen? Wie werden die Figuren, Typen und Charaktere konstruiert? Welche Leitmotive und Konflikte entwickeln sich? Inwieweit wird der Text schriftlich fixiert?

Das Erinnerungstheater Wien setzte in ihrer Einstandsproduktion Wenn ich mir was wünschen könnte (1999) Schlüsselmomente aus dem Leben von sieben Frauen szenisch um. In chronologischer Reihenfolge präsentierten die Darstellerinnen die erarbeiteten Szenen. Der Text enthielt Dialoge und Monologe, war schriftlich fixiert und wurde auswendig gesprochen.

Anders anno MM memento mori in Salzburg. Ihre Themen - Kindheit, Liebe, Krieg, Nachkriegszeit, Angst vor Armut im Alter und der Tod - bilden den Rahmen innerhalb dessen der Text skizzenhaft festgelegt ist. Man trägt einzeln, in freier Rede vor, Dialoge existieren keine. Der Vorteil dieser dramaturgischen Akzentsetzung liegt auf der Hand. Kein mühsames Auswendiglernen, keine peinlichen »Hänger« belasten das Ensemble. Vielmehr wirkt ihr Vortrag frisch und lebensnah. Als Schwierigkeit erweist sich die zeitliche Einschätzung ihrer Worte. Einmal hatten einzelne Ensemblemitglieder so sehr in ihren Erinnerungen geschwelgt, daß sie die Stückdauer um eine Stunde überzogen [ 15 ]. Erst durch das Abwandern des Publikums bemerkten sie die Panne. Danach achteten sie aufmerksamer auf den »Fahrplan« und nahmen die Reaktionen im Saal aufmerksamer wahr.

Sobald der Text steht, beschränkt die Dramaturgin ihre Funktion darauf, als »externes Auge« anwesend zu sein. Während der Dauer der Inszenierung steht sie der Regie in regelmäßigen Abständen als erste Zuschauerin, als Betrachterin aus einer gewissen Distanz zur Verfügung und unterstützt die künstlerische Arbeit mit konstruktiven Fragen und Rückmeldungen [ 16 ]. Im Gegensatz zum literarischen Theater, wo Dramaturgie und Regie in abgezirkelten Bereichen tätig werden, arbeitet das künstlerische Leitungsteam im Erinnerungstheater sehr verzahnt. Da die Regie bei den Treffen zur Stückentwicklung durchgehend anwesend ist, denkt sie die Transformierung sprachlicher in theatralische Zeichen kontinuierlich mit. Das Regiekonzept nimmt Hand in Hand mit dem Text Konturen an.

»braune« vergangenheit

»Brauchen wir Schutz vor den Abgründen der Erinnerung? Unaufschiebbare Frage, zu der die anstrengende Bewegung in verschiedenen Zeiten unvermeidlich führt.« [ 17 ]

Wer in Österreich  und Deutschland Erinnerungstheater mit älteren und alten Menschen entwickelt, sieht sich unweigerlich mit Erinnerungen aus der Zeit des Nationalsozialismus konfrontiert. Während im britischen Erinnerungstheater nicht  selbstkritische Auseinandersetzung mit eigenen Versäumnissen, sondern die Verbesserung von Lebensqualität am Ende eines langen Lebens im Vordergrund steht [ 18 ], ist in unseren Breitengraden zusätzlich die Auseinandersetzung mit diesem tragischen Kapitel der Vergangenheit gefragt. »Als Erwachsene oder Jugendliche haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses System sehr bewußt erlebt. Viele von ihnen haben es offen oder doch indirekt unterstützt. Welche Vergangenheit kommt also zur Sprache, welche Erinnerungsgehalte werden zutage gefördert? Wird beim Thema ›Schule‹ der Morgenappell auftauchen, bei dem mit hochgerecktem rechten Arm und in HJ-Uniform das Horst-Wessel-Lied gesungen wurde?« [ 19 ], fragen sich die Autorinnen des Buches Erinnern. Eine Anleitung zur Biographiearbeit mit alten Menschen. Ihre Antworten haben auch für die Bühne Gültigkeit. Um mit »braunen« Erinnerungen umgehen zu können, sollte die Theaterleitung zwei Regeln beachten: Erstens sich selbst im Vorfeld der Theaterarbeit mit den historischen Fakten des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Zweitens einschätzen zu lernen, wann und in welcher Form rassistische oder sexistische Äußerungen nicht unkommentiert stehengelassen werden können. Ein klares Wort zum passenden Zeitpunkt – ohne Abwertung und ohne moralischen Zeigefinger – löst zwar unter Umständen Konflikte im Ensemble aus und kann  zu heftigen Diskussionen führen, birgt jedoch die Chance, im Prozeß der Auseinandersetzung den individuellen Blickwinkel zu erweitern. Zuviel Respekt am falschen Ort läßt kritische Töne verstummen und  wirkt sich künstlerisch kontraproduktiv aus.

Betsy Torenbos will die Herzen ihrer Ensemblemitglieder erobern und sagt »ich habe mich in jeden einzelnen dieser wunderbaren Menschen verliebt«. [ 20 ] Verliebte pflegen die Realität durch eine »rosarote Brille« wahrzunehmen, daher bezahlt die Regisseurin ihre bedingungslose Hingabe mit inhaltlicher Einseitigkeit. Schmerzlich vermißt man in der Produktion anno MM memento mori eine Gesinnung, eine fortschrittliche Weltanschauung oder um mit den Worten Erwin Piscators zu sprechen »Politisches Theater, d. i. das Theater des allgemeinen Zeitausdrucks« [ 21 ].

Die Ensemblemitglieder der Salzburger Produktion haben den Zweiten Weltkrieg entweder als Soldaten der deutschen Wehrmacht oder als weibliche Bevölkerung im Hinterland miterlebt. Opfer des Nationalsozialismus, rassistisch, politisch oder sexuell verfolgte Menschen, sind unter ihnen keine vertreten. Infolgedessen erinnert man sich zwar an die Schrecken der Schlacht um Stalingrad und an die Hungersnöte der Zivilbevölkerung, über Themen wie  (Mit-)Täterschaft, Judenvergasung, Konzentrationslager u. v. a. m. wird geschwiegen. Um ein verzerrtes Geschichtsbild zu vermeiden, hätte die Theaterleitung diesem unausgewogenen Erinnerungsstatus harte, historische Fakten entgegenstellen müssen. Denn Erinnerungstheater heißt Erinnern plus Reflektieren. Jede 1:1-Wiedergabe von Erinnerung, ohne ihre Einbettung in gesellschaftliche Gegebenheiten greift zu kurz. Dann bleibt das Publikum – insbesondere der jungen und jüngsten Generation – auf der Strecke. Eugenio Barba weiß, wovon er spricht, wenn er schreibt: »Die Existenz eines Theaters ist nicht zu rechtfertigen, wenn es nicht ein ausgeprägtes Bewußtsein seiner sozialen Aufgabe hat.« [ 22 ]

inszenierung

»Wenden wir uns der Inszenierung als der eigentlichen Erscheinungsweise gespielten Theaters zu.« [ 23 ] Inszenatorische Arbeit besteht in der inhaltlichen und formalen Strukturierung der Theatersituation und  im Aufbau des theatralischen Zeichensystems. Theatralische Zeichen sind etwa Raum, Bühnenbild, Ausstattung, Lichtgestaltung, Maske, Frisur, Kostüm, Requisit, Geräusch und Musik sowie körperlicher (Gestik, Mimik, Bewegung) und sprachlicher (Stimmführung, Rhythmus, Tempo) Ausdruck der SchauspielerInnen. In der individuellen Montage dieser theatralischen Zeichen wird der Gehalt des Theaterstückes sinnlich vermittelt. Die Regie übersetzt unter Zuhilfenahme ihrer fundamentalsten Elemente, nämlich Bewegung und Raum, den Text in Bilder. [ 24 ]

Das Regiekonzept von anno MM memento mori ist stringent und kompakt. Die DarstellerInnen spielen, daß sie sich gegenseitig ihre Erinnerungen erzählen. Das Publikum hört und sieht ihnen dabei zu. Worüber wer wann berichtet, ist durch ein Ritual festgelegt. Auf dem Clubtisch in der Mitte der Rundbühne liegt ein Stoß Zettel mit Stichworten. Reihum hebt eineR nach der/dem anderen einen Zettel auf, liest das Stichwort und berichtet darüber im Anschluß in freier Wortwahl. Dialoge bzw. körperliche Interaktionen entstehen keine, denn auch die Ensemblemitglieder lauschen einander andächtig. Die Spannung steigt, wenn eine Person in der nächsten Runde  an ihre früheren Erzählungen anknüpft oder diese aus einer anderen Perspektive beleuchtet.

Die Regie trägt mit diesem reduzierten Konzept dem Unabänderlichen, nämlich körperlicher Immobilität und geistiger Verwirrung einzelner Ensemblemitglieder, auf einfühlsame Weise, ästhetisch konsequent Rechnung. Bis auf ein oder zwei Ausnahmen bleiben die Ensemblemitglieder während der gesamten Aufführungsdauer in ihren Sesseln sitzen. Schweigend und ohne raumgreifende Aktionen, solange sie zuhören - lebhaft in Mimik, Gestik und Stimmgestaltung, während sie ihre Erinnerungen vortragen. Ein dramatischer Plot, eine spannende Story fehlen komplett. Scheinbar an Kandinskys  »abstrakter Bühnensynthese« [ 25 ] orientiert wird die Atmosphäre des schlichten Erzählens, in andere Kunstgattungen  transformiert. Eingebettet in das Rad des Lebens (Bühne), perspektivisch beleuchtet durch Videosequenzen, untermalt mit musikalischen Einschüben und umhüllt von Küchengerüchen, wäre jede zusätzliche Aktion im Raum überflüssig. Zu den Highlights des Nachmittags gehört der eigens engagierte Kochkünstler. Plastischer ließe sich die Tatsache, daß Erinnerungen häufig durch die Sinne ausgelöst werden, nicht demonstrieren. Die Speisedüfte verdichten die Erinnerungen und  lassen das erzählte Wort auf dieser Ebene neu begreifen.

Dieses Begreifen wäre vertieft worden, hätte es die Regie nicht verabsäumt, die Hintergründe des Fremden aufzuhellen. Szenische Brüche und Drehungen, beispielsweise projizierte Zwischentexte oder DarstellerInnen, die aus ihrem Erzählduktus treten, um gesellschaftliche Zusammenhänge zu erläutern – Brecht spricht in diesem Zusammenhang vom »Gestus des Zeigens« [ 26 ] –, hätten der besseren Verständlichkeit und Vertiefung der Produktion gedient [ 27 ]. Die Videoprojektionen von anno MM memento mori hätten sich ideal zur Verfremdung geeignet. Bedauerlicherweise bleiben sie im Illustrativen hängen. Die Bilder, teilweise aufgezeichnet in der originalen Wohnumgebung einzelner Ensemblemitglieder, teilweise live aus der Theateraufführung (zwei Videokünstlerinnen filmen vor Ort mit), transportieren keinerlei historische Eckdaten, sondern ausschließlich atmosphärische Elemente.

schauspielkunst

Erinnerungstheater sprengt die herrschende Konvention der Schauspielkunst, denn die AkteurInnen spielen keine Rollen, sondern sich selbst. Lediglich in Ausnahmefällen – meist zum Schutz vor öffentlicher Bloßstellung [ 28 ] – werden Erinnerungen von KollegInnen gemimt. In Wenn ich mir was wünschen könnte des Erinnerungstheater Wien sprechen die DarstellerInnen ihre intimen Erinnerungen hinter einem durchsichtigen Vorhang selbst, können jedoch dabei nicht eindeutig identifiziert werden. Auch in anno MM memento mori behalten die DarstellerInnen ihre reale Identität bei. Alle treten in ihrer persönlichen Alltagskleidung auf, sorgfältig gewählt und abgestimmt, gleichwohl dem eigenen Kleiderschrank entnommen. Indem sie sich überdies namentlich vorstellen, die Anzahl ihrer Lebensjahre nennen und ihre alltäglichen Sprachgewohnheiten (Dialekt) beibehalten, unterstreichen sie dieses atypische Element einer Theateraufführung .

Im Erinnerungstheater werden auf diese Weise die Stärken der LaiendarstellerInnen ins rechte Licht gerückt, den eine mühsame Einfühlung in die Psyche der Bühnenfiguren und deren Lebensumstände ist überflüssig, 100%ige Authentizität gegeben. Insbesondere bei winzigen Pannen berührt die Wahrhaftigkeit der SpielerInnen auf verblüffende Weise. Etwa, wenn sich das Ensemble von anno MM memento mori gegenseitig erinnerungsmäßig auf die Sprünge hilft oder wenn sie bei sehr privaten Erinnerungen von den eigenen Emotionen überwältigt mit Tränen kämpfen. Diderots berühmtes »Paradox über den Schauspieler«, wonach SchauspielerInnen, die das Publikum rühren wollen, selbst ungerührt – mit einem Kopf aus Eis! [ 29 ] – bleiben müssen, wird nicht genüge getan. Zu sehr verwischen sich private Gefühle mit der Rolle. Lediglich die »Illusion des ersten Males« bleibt aufrecht. »Eine gespielte Szene muß so wirken, als hätte sie nie zuvor stattgefunden, als hätte sie niemand jemals zuvor gesehen, als hätte die jeweilige Schauspielerin dies nie zuvorgetan (...)« [ 30 ] Das Theatersetting der Aufführung kann also nicht bestritten werden, obgleich sich ihre Darstellungsweise mehr mit theatralischen Randformen, wie dem Happening oder der Performance, verwandt zeigt. Hier wie dort fluktuieren die Grenzen zwischen Kunst und Leben, wird in die Kunst ein »live«-Charakter eingebracht und tritt die Individualität der KünstlerInnen stärken in den Vordergrund. [ 31 ] anno MM memento mori besticht schlußendlich – Stanislawski hätte seine wahre Freude – durch eine Geschlossenheit der Ensembleleistung. Der Tradition im Erinnerungstheater [ 32 ] folgend begegnet man einer ausgewogenen Rollenverteilung ohne Starbesetzung.

rezeption

Das »unbarmherzigste Medium« nennt Peter Brook das Theater, »dem Irrtum ist kein Raum gelassen und auch nicht der Verschwendung« [ 33 ]. Ein Roman kann nachgelesen werden, ein Film kann wiederholt werden, ein Bild kann beliebig lange und immer wieder betrachtet werden. Das Theaterspiel hingegen ist einmalig und unwiederholbar für  sein Publikum. »Produktion und Rezeption fallen beim Theater in eins, stehen zeitlich nicht nacheinander, sondern verlaufen gleichzeitig.« [ 34 ] Ein weiteres Spezifikum der Theaterrezeption ist, daß sich das Theater stets in einem sozialen Prozeß vollzieht, in der Gemeinschaft von SpielerInnen und ZuschauerInnen. Ohne diese Dualität bliebe das Spiel nur Spiel und würde nicht zum Theater, das seinem Wesen nach Spiel und Ernst zugleich ist. Die Aufgabe des Publikums ist es, die Zeichen auf der Bühne und ihre theatrale Codierung zu entschlüsseln und mit Bedeutung zu versehen. [ 35 ] Das Theater auf der Bühne wird also in den Köpfen des Publikums gedoubelt. Während die AkteurInnen sprechen, assoziieren und imaginieren die ZuschauerInnen ihre persönlichen Bilder. Das Publikum beendet vor dem geistigen Auge schöpferisch, was auf der Bühne passiert. »Im Prozeß komplementärer Identifikation bezieht der Zuschauer die Spielsituation auf der Bühne auf sich, entsprechend der Möglichkeiten verstehender Teilhabe. Das fremde Leben wird im Blick auf das eigene gesehen; mit Hilfe des fremden wird das eigenen besser begriffen, (...)« [ 36 ]

In Bezug auf die Rezeption des Erinnerungstheaters läßt sich folgende Hypothese aufstellen (detaillierte wissenschaftliche Forschungsergebnisse fehlen): Es scheint, als hinge die Art und Weise der Wirkung von der Generationszugehörigkeit der ZuschauerInnen ab. Je größer die Distanz zwischen den eigenen Lebensjahren und den erzählten oder gespielten Erinnerungen ist, desto geringer bleibt das innere Engagement. Das heißt, Jugendliche stehen dem Erinnerungstheater ihrer Großeltern offen, interessiert und neugierig gegenüber, sie wünschen Information und Aufklärung. Tief betroffen, sind sie in den seltensten Fällen. Die Generation der potentiellen Töchter und Söhne des Ensembles bekommt Antworten auf schmerzliche, möglicherweise nie gestellte Fragen, wodurch ein tieferes Verständnis und versöhnlicher Austausch zwischen diesen beiden Generationen möglich wird. Ältere und alte Menschen, also Angehörige derselben Generation, sind oft unmittelbar berührt, sogar schockiert vom Geschehen auf der Bühne. Die Konfrontation über fremde Erinnerungen mit eigenen kann heftige Gefühle auslösen. Tränen während einer Aufführung oder emotionale Anteilnahme an einer Publikumsdiskussion im Anschluß sind keine Seltenheit. Erinnerungstheater wird hier zum Schauplatz für Katharsis, die nach Aristoteles einen reinigenden Effekt in sich birgt, da die ZuschauerInnen im Erleben der Gefühle vom Übermaß derselben befreit werden [ 37 ] und dadurch Erleichterung finden. Die Wirkung im Publikum erstreckt sich von der Prophylaxe der Jüngeren (sich im Leben positionieren) bis  zur Heilung der Älteren (sich seines Lebens vergewissern).

resumee

Erinnerungstheaterist die Pflegestätte kultureller Innenausstattung einer Generation. Obwohl anno MM memento mori noch nicht das ganze Repertoire der dieser Theatergattung innewohnenden Aussagekraft ausschöpft, kann das Experiment als gelungen bezeichnet werden. Es bleibt zu hoffen, daß österreichweit viele Inszenierungen folgen. Ohne Zweifel müssen dazu die Strukturen grundlegend verbessert werden. Es braucht mutige, ältere und alte Menschen, die Lust haben, die Bühne zum Forum ihrer Erinnerungen zu machen; es braucht engagierte KünstlerInnen, die für die Rahmenbedingungen verantwortlich zeichnen; mehr Information, Wissen und Austausch über diese sozio-kulturelle Theaterarbeit und last but not least großzügige, finanzielle Förderungen durch die Öffentliche Hand und SponsorInnen der Privatwirtschaft. Solange im Bericht des ehemaligen Bundesministeriums für Kinder, Familie und Jugend (1999) im Kapitel »Kulturarbeit mit älteren Menschen« [ 38 ], nur der Besuch von Veranstaltungen, also der konsumierende Aspekt, Erwähnung findet und eine Auflistung produzierender, kultureller Tätigkeiten fehlt, solange im Bereich der Kunstförderung der künstlerische Wert von Erinnerungstheater belächelt und als Beschäftigungstherapie abgewertet wird, solange behindert man eine angemessene, zukünftige Entwicklung.

»Im Zeitalter universalen Erinnerungsverlustes (...) haben wir zu realisieren, daß volle Geistesgegenwart nur auf dem Boden einer lebendigen Vergangenheit möglich ist. Je tiefer unsere Erinnerung geht, um so freier wird der Raum für das, dem all unsere Hoffnung gilt: der Zukunft.« [ 39 ]

REFERIERT am 2. Mai 2001 in Wels anläßlich der 2. Österreichischen Seniorentheater-Enquete. PUBLIZIERT in: Pro Senectute. Für das Alter in Österreich. Fachzeitschrift für Gerontologie und Altenpflege. Nr. 2, 2001; Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft. Wien, Köln, Weimar 2002 (in Vorbereitung)

 

1 ] Dieser Text wurde im Rahmen der 2. Österreichischen SeniorInnentheater-Enquete (Wels, 2. Mai 2001) referiert.

2 ] Vgl. Produktionen der Kärntner Spätlese, des Erinnerungstheater Wien bzw. von artemis generationentheater.

3 ] Osborn, Schweitzer, Trilling: Erinnern. Eine Anleitung zur Biographiearbeit mit alten Menschen. Lambertus 1997, S. 10.

4 ] Blimlinger, Ertl: Lebensgeschichten. Biographiearbeit mit alten Menschen. Vincentz 1996, S. 133.

5 ] Blimlinger, Ertl: a. a. O., S. 55.

6 ] Frigga Haug: Vorlesungen zur Einführung in die Erinnerungsarbeit. Argument 1999, S. 32.

7 ] Interview mit Betsy Torenbos, 17.7.2000.

8 ]  Vgl. Christoph Stoik: Erinnerungsarbeit - Ein Erfahrungsbericht. In: alterego. Vierteljahresschrift von Altern & Kultur Österreich. Nr. 1, 1996, S. 34.

9 ]  Osborn, Schweitzer, Trilling: a. a. O., S. 30.

10 ] Hans Georg Ruhe: Methoden der Biographiearbeit. Lebensgeschichte und Lebensbilanz in Therapie, Altenhilfe und Erwachsenenbildung. Beltz 1998. S. 136.

11 ] Blimlinger, Ertl: a. a. O., S. 18.

12 ] Vereinzelt spielten professionelle DarstellerInnen die Geschichten der älteren Menschen.

13 ] Heinz-D. Haun: Theaterpädagogik ist Dialog. In: Korrespondenzen. Zeitschrift für Theaterpädagogik. Heft 28, 1997, S. 35-42.

14 ] Maaike Bleeker: Dramaturgie als Modus der Betrachtung. In: tanzdrama. Nr. 54, 2000, S. 28.

15 ] Interview mit Betsy Torenbos, 17.7.2000.

16 ] Maaike Bleeker: a. a. O., S. 29.

17 ] Christa Wolf: Kindheitsmuster. dtv 2000, S. 93.

18 ] Osborn, Schweitzer, Trilling: a. a. O., S. 11.

19 ] Ebd.

20 ] Interview mit Betsy Torenbos, 17.7.2000.

21 ] Manfred Brauneck: Theater im 20. Jahrhundert. Rowohlt 1986, S. 313.

22 ] Manfred Brauneck: a. a. O., S. 485.

23 ] Manfred Brauneck: a. a. O., S. 34.

24 ] Vgl. Renate Möhrmann (Hg.): Theaterwissenschaft heute. Dietrich Reimer 1990, S. 67.

25 ] Brauneck, Manfred: a. a. O., S. 215.

26 ] Felix Rellstab: Theorien des Theaterspielens. Stutz Druck AG 1998, S. 38 ff.

27 ] Das Erinnerungstheater Wien benützte in Produktion Wenn ich mir was wünschen könnte gesprochene Texte aus dem Off, in der Produktion Our Century and Us (2000) von Age Exchange treten die MitspielerInnen aus ihren Rollen und informieren über gesellschaftliche Rahmenbedingungen.

28 ] Aus diesem Grund spielte die Kellererinnerung der falten-Performance  (Artemis Generationentheater) ein anderes Ensemblemitglied.

29 ] Felix Rellstab: a. a. O., S. 118.

30 ] Vgl. Lee Strasberg: Schauspielen und das Training des Schauspielers. Alexander 1994, S. 107   (Die Arbeitsbedingungen des Schauspielers erfordern, daß er im voraus weiß, was er tun wird, während die Kunst des Schauspielens es erfordert, daß es so aussieht, als wisse er das nicht.).

31 ] Manfred Brauneck: a. a. O., S. 463 f.

32 ] Erinnerungstheater, Generationentheater, SeniorInnen- bzw. Altentheater arbeiten generell gruppenorientiert.

33 ] Manfred Bauneck: a. a. O., S. 25.

34] Manfred Brauneck: a. a. O., S. 27.

35 ] Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Das System der theatralischen Zeichen. Gunter Narr 1983, S. 189 ff.

36 ] Manfred Brauneck: a. a. O., S. 32.

37 ] Felix Rellstab: a.a. O., S. 34.

38 ] Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie: Ältere Menschen - Neue Perspektiven. Österreichischer Bericht zur Lebenssituation älterer Menschen. Wien: 1999, S. 21f.

39 ] Christa Wolf: a. a. O. S. 197.