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Zeitschritte

Wiener Erinnerungstheater Festival 2003

Von 1. bis 5. April 2003 fand im dietheater Künstlerhaus in Wien das erste Wiener Erinnerungstheater-Festival »Zeitschritte« statt. Auf Initiative von Dr. Erika Kaufmann, Mitarbeiterin der Wiener Kulturabteilung, kamen vier Produktionen von Wiener Erinnnerungstheater-Gruppen zur Uraufführung.

Rückschau halten, sich erinnern und reflektieren – das sind Fähigkeiten, die uns Menschen auszeichnen und die für unser Zusammenleben notwendig sind. Dieser wichtigen und gesellschaftlich wertvollen Aufgabe widmet sich das Erinnerungstheater. Das Faszinierende am Erinnerungstheater ist der gemeinsame kreative Prozeß von meist älteren und alten Menschen ohne Theatervorerfahrung. Nicht das bekannte, das »vorgefertigte« Theaterstück kommt zur Aufführung, sondern die in der Gruppe erarbeiteten Themen, Bilder und Assoziationen.

Seit 1998 arbeitet das Erinnerungstheater Wien erfolgreich in diesem Bereich. Mit zwei interessanten Produktionen hat es den Weg für die inzwischen aufblühende Wiener Erinnerungstheater-Szene gebahnt. Mit Unterstützung der Medien und über Mundpropaganda haben sich Anfang 2002 auf Anregung von Erika Kaufmann drei weitere Gruppen in Wien formiert, so dass insgesamt vier Gruppen das Festival bespielen.

Die Frauen-Gruppe Que Sera beschreibt in »Nix wie weg«, wichtige Stationen in den Lebensläufen ihrer Darstellerinnen. Diese sind stark geprägt vom Wunsch nach Befreiung aus engen, männerdominierten Strukturen. Die Gruppe Herbst-Zeitlose entwickelt den szenischen Bogen des Stückes »Kaleidoskop« ebenfalls anhand der zeitlichen Biographie ihrer Mitglieder. »Kaleidoskop« zeigt berührende Bilder aus dem 2. Weltkrieg und der Zeit des Wiederaufbaus ebenso wie gegenwärtige Konflikte zwischen Mutter und Tochter, verwirklichte Urlaubsträume in der Karibik oder die Problematik pflegender Angehöriger. Die Gruppe Zeitgeister hat im Theaterstück »Inventur« die Rahmenhandlung auf einen Ort gebündelt. Anläßlich eines Firmenjubiläums erinnern sich die einzelnen Familienmitglieder und Mitarbeiterinnen an längst Vergessenes und Verdrängtes im Zusammenhang mit ihren individuellen Lebensgeschichten.

Allen drei neuen Gruppen ist ihre Begeisterung und ihr Engagement im Spiel anzumerken. Verständlicherweise mangelt es noch an schauspielerischer Wandlungsfähigkeit, Bühnenpräsenz und sprachlichem Ausdruck. Der dramaturgische Bogen ist gelegentlich holprig. Dennoch blitzt viel kreatives und künstlerisches Potential in den Produktionen auf. Darauf kann in Zukunft sicherlich aufgebaut werden.

Wie diese Weiterentwicklung aussehen könnte, zeigt sich am Erinnerungstheater Wien: Mit ihrer dritten Produktion »Halbmond der Freiheit« knüpft die Gruppe an frühere Arbeiten an. »Diesmal haben wir uns das Thema Liebesbeziehungen vorgeknöpft«, erzählt Michaela Schwind, künstlerische Leiterin der Gruppe. Sieben Menschen zeigen auf der Bühne Ausschnitte aus ihrer Suche nach dem richtigen Maß an Nähe und Distanz in den von ihnen gelebten Lieben. Es entstehen dabei Bilder gegenseitigen Unverständnisses, zärtlicher Annäherung, demütigender Abhängigkeit und wechselseitiger Akzeptanz. In knappe Szenen gebündelt, auf hohem schauspielerischen Niveau und unterstützt von subtilen Videoeinspielungen (Jasmina Hajdany) hat es die Regisseurin, Michaela Schwind, einmal mehr eindrucksvoll geschafft, Einblicke in die Welt der Generation unserer Eltern und Großeltern zu geben.

Nachdenklich stimmt allerdings, dass allen vier Stücken zeitgeschichtliche Erinnerungen mit dem eigenen Leid, sei es an der Front oder in den Wirren des Kriegsendes im Hinterland, beginnen. Der nationalsozialistische Schrecken mit der Frage nach Täterinnen und Tätern, Mitläufern, Opfern und Widerstand wird dadurch ausgeklammert.

Ingrid Türk-Chlapek